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Abschied vom Slowakischen. Die Tschechen kehren ihrer einst traditionellen Zweisprachigkeit den Rücken

Boris Blahak

 

Das Phänomen des tschechisch-slowakischen Bilingualismus ist - neben dem serbisch-kroatischen - ein europäisches Unikum. Seine Entwicklung fußt in der tschechoslowakischen Idee, die sich im Rahmen der Nationalbewegungen beider Völker ab ca. 1800 formierte. Während die tschechische Intelligenz damals an eine ethnische Einheit mit den Slowaken glaubte und deren Mundarten als tschechische betrachtete, war die slowakische Bildungsschicht in dieser Frage gespalten. Als sich herauskristallisierte, dass beide Völker aufgrund ihrer bisherigen unterschiedlichen historischen Entwicklungen verschiedene politische Programme entwickelten, zog der Slowake udovít Štúr daraus die Konsequenz und begann 1843 mit der Kodifizierung einer slowakischen Schriftsprache auf der Basis der mittelslowakischen Dialekte. Obwohl die Verfassung der jungen CSR 1920 eine „tschechoslowakische Sprache“ erwähnte, erkannte das gleichzeitig erlassene Sprachengesetz Nr. 122 sowohl das Tschechische als auch das Slowakische als Amtssprache an und begründete damit einen sprachlichen Dualismus, der auch die Schaffung einer Mischsprache verhinderte. Waren die regionalen Ausprägungen beider Sprachen zwischen Cheb und Užhorod auch zum Teil recht unterschiedlich, so verstand man doch zumindest passiv die Nachbarn stets problemlos. Als Symbolfigur dieser Zweisprachigkeit diente u. a. der von tschechischer Seite fast mystifizierte Staatsgründer Masaryk, Kind einer tschechisch-slowakischen Mischehe.

Die bis 1992 perfekt ausgeprägte rezeptive Bilingualität im Doppelstaat wurde vor allem durch die tschechoslowakischen Medien gefördert, die abwechselnd in beiden Staatssprachen sendeten, so dass Kinder von klein auf mit ihnen aufwuchsen, wobei die tschechische Sprache etwas großzügigere Sendezeiten erhielt. Dafür widmete man 1959-89 an den so genannten „Bratislavaer Montagen“ ein ganzes Vorabend- und Abendprogramm dem Slowakischen.

Die Staatstrennung von 1993 löste in Tschechien langsam eine völlige Abkehr vom Slowakischen aus, während das Tschechische in den slowakischen Medien weiter präsent blieb, wo man bis heute keine eigene Videodistribution besitzt und daher in Fernsehen und Kino weiter tschechisch synchronisierte oder untertitelte Filme und Serien zeigt. Zudem strahlt das slowakische Fernsehen nachts die tschechischen Abendnachrichten vom Vortag aus. Erst die wiederholten Warnungen slowakischer Patrioten „vor dem verderblichen Einfluss des Tschechischen“ führten dazu, dass heute Sendungen für Kinder bis zwölf Jahren synchronisiert werden müssen, was das Programm für Erwachsene allerdings nicht tangiert.

Anders verlief die Entwicklung in den tschechischen Medien: 1999 warnte eine erste Studie der Agentur Sofres-Factum vor einer langfristigen Entwicklung hinsichtlich des Unvermögens tschechischer Kinder, Slowakisch zu verstehen. Trotz wiederholter Versicherungen der Medien, Erwachsenenprogramme im slowakischen Originalton zu senden und in binationalen Produktionen beide Sprachen zu verwenden, verabschiedete man sich sechs Jahre später in der tschechischen Presse bereits prophetisch für immer vom Slowakischen: Das staatliche Fernsehen hatte erstmals eine slowakische TV-Serie für Erwachsene (Záchranári/Die Rettungsleute) synchronisiert und damit nach eigenen Aussagen auf die Verständnisprobleme der jüngeren Generation mit dem Slowakischen reagiert. Daneben verschwinden slowakische TV-Serien zunehmend aus den staatlichen Kanälen - 2001-03 stellten sie kaum 4 % der ausländischen Produktionen dar, die dann auch noch der Synchronisation zum Opfer fielen.

Nach einer Umfrage des Fernsehens verstanden zwar 90 % des Publikums slowakisch, gleichzeitig räumte aber ein Drittel Verständnisprobleme der eigenen Kinder ein - ein Anteil der sich mit dem Ergebnis einer Erhebung der Agentur RCA Research unter Tschechen um 20 Jahre deckte. In einer 2004/05 unter Tschechen bzw. Slowaken im Alter von 18-29 Jahren durchgeführten Befragung zur Selbsteinschätzung der aktiven Kenntnis der jeweiligen Nachbarsprache gaben 80 % der Slowaken gute bis sehr gute oder sogar Kenntnisse auf Muttersprachler-Niveau an. Auf tschechischer Seite waren demgegenüber 68 % der Ansicht, ihr Slowakisch sei mittelmäßig, lückenhaft oder sogar schlecht. Etwas weniger klaffte die Schere bei der Frage nach der eigenen passiven Kenntnis auseinander: 97 % der Slowaken und 91 % der Tschechen ordneten sich hier gute bis sehr gute bzw. Muttersprachler-Kenntnisse zu. Qualitativ zeigte sich aber, dass sich dabei jeder zweite Slowake, jedoch nur jeder siebte Tscheche auf Muttersprachler-Niveau sah.

Diese einseitige Entwicklung erfasst auch den Printmedienmarkt in beiden Ländern: Bücher, Magazine und Zeitschriften erschienen bisher in jedem Landesteil der Tschechoslowakei in der jeweiligen Sprache. Während aber noch heute täglich Laster, beladen mit Tausenden von tschechischen Büchern, slowakische Buchhändler beliefern, reicht für die entgegengesetzte Richtung ein Kleintransporter. In Tschechien hat man - abgesehen von ein paar Fachtiteln - aufgehört, auf Slowakisch zu lesen. Darüber hinaus ist hier auch das bloße Bewusstsein von einer slowakischen Literatur in jüngster Zeit stark geschwunden. Die Lidové noviny beklagte 2004, dass der slowakische Durchschnitts-Intellektuelle problemlos zehn zeitgenössische tschechische Autoren samt Buchtitel und Kurzinhalt nennen könne, während tschechische Kulturredaktionen keine Ahnung von slowakischer Literatur haben. Besagte Umfrage von 2004/05 scheint dies zu bestätigen: 75 % der Slowaken gaben an, dass sie oft (1-2 x pro Woche) oder zumindest gelegentlich (1-2 x pro Monat) Druckerzeugnisse in der Nachbarsprache läsen, demgegenüber stehen 43 % der Tschechen, die zugaben, sie läsen nie Texte in slowakischer Sprache.

Letztlich bleibt den tschechischen Verlagen trotz der engen sprachlich-historischen Verwandtschaft beider Völker die Übersetzung als einzige Möglichkeit, slowakische Literatur in Tschechien anzubieten. Also begann man vor wenigen Jahren in kleinen Schritten mit der Kinder- und Jugendliteratur. 2004 sorgte das Erscheinen der ersten tschechischen Übersetzung slowakischer Erwachsenen-Belletristik (Kniha o cintoríne/Das Buch über den Friedhof der Slowakin Daniela Kapitánová) für Aufsehen - ein alarmierendes Zeichen für Anhänger des tschechisch-slowakischen Bilingualismus.

Die Warnungen tschechischer Intellektueller sind inzwischen unüberhörbar: 1999 beschrieb der tschechische Senatspräsident Petr Pithart die tschechische „Unwissenheit von der eigenen Unwissenheit über die Slowakei“ als Relikt der Vergangenheit, das den slowakischen Charakter nur diffus als „etwas Primitiveres aber auch Spontaneres, Freigiebigeres, Innigeres, etwas, das mit verlorener Unschuld vergleichbar war“ erscheinen ließ. Václav Havel war schon 1992 soweit gegangen, seine eigenen Landsleute als „so selbstsüchtig, verachtend und gefühllos“ zu bezeichnen, „dass die Slowaken nicht mehr an die Tschechoslowakei als ihr Land glauben konnten“.

Auch das Schulwesen beweist die Einseitigkeit, mit der lediglich die slowakische Seite sich darum bemüht, einen Rest der Zweisprachigkeit aufrecht zu erhalten: 1995 wurde Tschechisch als Wahlfach an slowakischen Schulen eingeführt. In Tschechien wird Slowakisch seit 1992 nur in der Grundschule in Karviná (für die slowakische Minderheit im Land!) unterrichtet.

Sucht man nach Menschen, die dem idealen bilingualen „Tschechoslowaken“ sprachlich am nächsten kommen, mag man an die Bewohner der Grenzregion zwischen beiden Ländern denken: In der „Mährischen Slowakei“ (Slovácko) auf tschechischer und „Hinter-den-Bergen“ (Záhorie) auf slowakischer Seite haben Tschechen und Slowaken nebeneinander gesiedelt. In diesem Mischgebiet kommen sich beide Sprachen in Dialekten am nächsten, hier wird man von der Bevölkerungsmehrheit spöttelnd als „bereits Slowake“ bzw. „bereits Tscheche“ bezeichnet. Durch Kinder aus den Mischehen der tschechoslowakischen Ära gibt es auch heute noch eine Gruppe jüngerer Leute, die durch ihr zweisprachiges Elternhaus bilingual ist. Ansonsten ist es hauptsächlich die Generation über 30 Jahren, die die Sprache der anderen Seite fließend, wenn auch als Fremdsprache, spricht.

Nach dem Höhepunkt der binnen- und zwischenstaatlichen Krise, die zur (nicht von der Bevölkerungsmehrheit gewünschten!) Staatstrennung mittels stiller Komplizenschaft der Regierungschefs Klaus und Meciar sowie persönlicher tschechisch-slowakischer Ambitionen führte, erfolgte nach einer kurzen politischen „Eiszeit“ eine schnelle Wiederannäherung beider Länder in fast allen gesellschaftlichen Bereichen. Ausgenommen davon ist jedoch der verfallende Bilingualismus auf tschechischer Seite. Dass die Slowaken, die - zugegeben - einen unleugbaren Vorteil bei der Rezeption anderer slawischen Sprachen haben (Slowakisch gilt als das slawische „Esperanto“), diesen weiter pflegen, mag als Facette des Tschechoslowakismus gedeutet werden: Obwohl dieser zunächst das ideologische Fundament der staatlichen Förderung des Bilingualismus in der CSR bildete, spürt man ihn heute, nachdem der gemeinsame Staat zu existieren aufhörte, v. a. im unverändert einseitigen Interesse der Slowaken am tschechischen Nachbarn bei gleichzeitiger weitgehender Unkenntnis bzw. eigentlichem Desinteresse der Mehrheit der Tschechen an den Vorgängen in der Slowakei, welche sich bei der jüngeren Generation im allmählichen Verlust der Zweisprachigkeit niederschlagen. Die gleichzeitige ungebrochene enorme, irrationale Sympathie der Tschechen für die Slowaken steht in keinem Widerspruch dazu, sondern ist ebenso ein „Tschechoslowakismus“: Sie ist das Abbild der große Liebe zu dem eigenen kleinen Bruder, den man in seinem vermeintlichen Kinderspiel doch nicht ganz ernst zu nehmen vermag.