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AN AIR OF CATASTROPHE

Jörg Trempler

 

Ein Windstoß oder eine Böe ist im übertragenen Sinne immer auch ein Impuls zu einer Bewegung, ein Anstoß für eine neue Zeit. Die Ruhe wird unterbrochen, die alte Bewegung gestört. Im christlichen Kulturkreis stellt der Wind sogar so etwas wie die Urzeit oder den Impuls für die Schöpfung überhaupt dar, setzt die biblische Geschichte doch in luftiger Höhe ein: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“ (Gen 1,1-2) Dieses „Schweben auf dem Wasser“ kann als die Ur-Briese schlechthin angesehen werden.

Dies gilt aber nicht nur für die Zeit vor der Erschaffung der Menschen oder bis zur deren Vertreibung aus dem Paradies. Für den Menschen des Alten Testaments ist die erste Stufe der Erfassung des Gottesgeistes die Erfahrung des Windes als einer auf Jahwe zurückgehenden Kraft. Deutlich wird dies an der Stelle, an der Gott die Sintflut beendet. Hier beruhigt er nicht die aufgewühlten Wogen, sondern schickt zur Versöhnung eine Böe, die die Regenwolken vertreibt (Gen 8,1): Er „ließ Wind auf Erden kommen und die Wasser fielen.“ Jahwe – übersetzt steht das hebräische Wort auch für Atem, was wiederum später den ‚Geist Gottes’ bezeichnet – tritt als Herr des Windes in Erscheinung. In der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des hebräischen Textes, ist hier von ‚Pneuma’ die Rede. In diesem Wort, das sowohl Geist als auch Hauch oder Luft bedeutet, ist ebenfalls die göttliche Begeisterung enthalten. Daher heißt die Lehre vom Heiligen Geist in der Theologie auch Pneumatologie. Der Wind kann also als das Grundmodell für die menschliche Erfahrung des göttlichen Wirkens überhaupt betrachtet werden.

 

War der Wind bisher ein religiös inspirierendes Erlebnis, schließen sich nun im Alten Testament Beispiele an, in denen der göttliche Wind Tod und Verderben über seine Feinde bringt. Das erste Beispiel stammt aus der Zeit der Israeliten in Ägypten. Von den bekannten zehn Plagen, die das Land damals überfielen, war eine die der Heuschrecken. Als auslösende Kraft wird ein göttlicher Wind genannt, denn „der Herr trieb einen Ostwind ins Land, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Und am Morgen führte der Ostwind die Heuschrecken herbei.“ (Ex 10,13) Dementsprechend ist auch das Ende der Plage zu lesen: „Da wendete der Herr den Wind, sodass er sehr stark aus Westen kam; der hob die Heuschrecken auf und warf sie ins Schilfmeer, dass nicht eine übrig blieb in ganz Ägypten.“ (Ex 10,19)

Bekannter noch ist der Auszug aus Ägypten, während dessen Moses das Meer teilt, um mit seinem Volk hindurch schreiten zu können. Die Verfolger dagegen werden, nachdem die Israeliten trockenen Fußes durchs Meer gezogen sind, von den Wassermaßen ergriffen und getötet. Ursache dieser Bewegung ist wiederum eine Böe (Ex 15,10): „Da ließest du deinen Wind blasen, und das Meer bedeckte sie, und sie sanken unter wie Blei im mächtigen Wasser.“ Diese Stelle steht in dem sogenannten Lobgesang Moses, der folgendermaßen einsetzt: „Damals sangen Mose und die Israeliten dies Lied dem Herrn und sprachen: ‚Ich will dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan; Ross und Mann hat er ins Meer gestürzt’.“ (Ex 15,1)

 

Es käme einer Art religiösem Fundamentalismus gleich, diese alttestamentarischen Vorgaben mit den Unbilden der heutigen Zeit gradlinig in Einklang bringen zu wollen. Im Gegenteil: Die Verbindung zu unserer sehr turbulenten Zeit erschließt sich weniger in religiösen Zusammenhängen oder in den immer noch gängigen Metaphern von der Vergänglichkeit („gone with the wind“), als vielmehr in einer geänderten Welterfahrung, die zwar in der religiösen Tradition steht, sich aber klar von ihr abhebt. Um dies deutlich zu machen, sei die berühmte Beschreibung eines Aquarells von Paul Klee zitiert, die Walter Benjamin im Abschnitt IX seines Traktates „Über den Begriff der Geschichte“ veröffentlichte:

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

 

Der ursprüngliche Schöpfergott, der am siebten Tage sah, dass alles ‚sehr gut’ war, ist hier zu einem Engel der Geschichte geworden, der auf eine einzige Katastrophe blickt. Von höchster Bedeutung aber ist, dass der Engel nicht mehr wirklich beteiligt ist. Er wird von dem Sturm nicht bewegt, sondern sogar daran gehindert, wegzufliegen. Es ist weniger ein Handeln als vielmehr ein Blicken, das ihn auszeichnet.

In diesem ‚Schauen’ scheint sich etwas von den heutigen Fernsehwelten zu erfüllen. Am 29. August gedachte die USA des verheerenden Hurrikans „Katrina“, der vor einem Jahr New Orleans erreichte, die Stadt verwüstete und rund 1500 Menschen in den Tod riss. Doch „Katrina“ blieb nicht allein, denn im letzten Jahr haben die Karibik und die USA eine der verheerendsten Hurrikan-Saisons aller Zeiten erlebt. Von insgesamt 28 Tropenstürmen wurden allein 15 zu Hurrikans. In diesem Atemzug könnte man auch den Tsunami in Fernost oder die Terroranschläge auf das WTC und deren Folgen nennen: Wir blicken zurück im Sturm der Zeit auf eine einzige Katastrophe. Mittlerweile gilt dies auch für die Zukunft. Die Meteorologen rechnen für 2006 mit einer sehr aktiven Hurrikan-Saison mit acht bis zehn schweren Stürmen.

Auch für diese katastrophale Zukunftsvision hat Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk eine griffige Formulierung geprägt: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene.“ (Passagen-Werk N 9 a, 1)

Damit manifestiert sich in gewisser Weise der Geist unserer Zeit in den gegenwärtigen Katastrophen. So wie die leise Böe ein Impuls für eine Bewegung sein kann, so schlägt sich der Sturm der Zeit in einer anwachsenden Zahl von Katastrophen nieder. Diese Ereignisse sind gewissermaßen der Rhythmus der Beschleunigung. Passiert lange keine Katastrophe, passiert lange nichts.

Als Benjamin seine Bemerkungen niederschrieb, gab es noch keinen Fernseher und auch noch keine Privatsender, die angetrieben waren, jedes Ereignis in den Zustand einer Katastrophe zu steigern. Umso erstaunlicher ist, dass heute ein großer Teil der Weltbevölkerung vor dem Fernseher sitzt wie der Engel der Geschichte in der Beschreibung Benjamins. Aus der Röhre tritt ihnen ein gewaltiger Sturm von Katastrophenbildern entgegen, der sie unfähig macht, aufzustehen und wegzuschauen.

Daher zum Schluss noch ein kleiner Windstoß in die entgegengesetzte Richtung des Sturms der Zeit. Das größte kollektive Fernsehereignis war zweifellos der 11. September 2001. Unzählige Menschen auf der ganzen Welt haben das Geschehen live verfolgt. Gerade in diesen Tagen, an denen sich das Ereignis das fünfte Mal jährt, überschlagen sich erneut Kommentare, Analysen und Interpretationen. Hat irgendein Reporter vor fünf Jahren für den Hauch einer Sekunde daran gedacht, die Kameras und Sender abzuschalten? Dieser einfache Gedanke erscheint undenkbar. Aber dies soll keine Anklage an die Fernsehgesellschaften sein, da auch jeder einzelne Fernseher eine Ein- und einen Ausschalter besitzt. Ich habe häufig gehört, wie sich Menschen unterhielten, wann und wo sie den Fernseher am 11. September eingeschaltet haben – ich habe bisher noch nicht erfahren, wann sie ihn wieder ausgemacht haben.

 

 

Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, I/2. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990

 

Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, V/1. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989