STADTGEWEBE
Magdalena NowinskaStellte man sich Städte als Gewebe vor, wäre São Paulo, die brasilianische Mega-City, wohl eine unförmige Patchworkdecke, ein monströses Stoffteil, behelfsmäßig zusammengenäht aus den gegensätzlichsten Textilien: Grobgewirktes neben Feingesponnenem, weite Maschen neben engen, feste Knoten neben losen, kunstvolle Spitze neben schlichten Netzen.
Diese Vorstellung drängt sich jedenfalls bei der Lektüre einiger jüngerer Autoren São Paulos auf, die in ihren je individuell geflochtenen Texten gänzlich unterschiedliche Bilder der Stadt präsentieren.
Da ist beispielsweise Ferréz, eigentlich Reginaldo Ferreira da Silva, ein junger Autodidakt und Chronist der Peripherie. In seinem 2003 erschienen "Praktischen Handbuch des Hasses" beschreibt er den brutalen Alltag und täglichen Überlebenskampf in den Slums. In einem schnellen Erzählrhythmus, gekennzeichnet durch kurze, abgehackte Sätze und die harte Ausdrucksweise der Peripherie, webt Ferréz einen komplexen Bildteppich der Slumverhältnisse. Multiple Erzähler betonen die Vielfalt innerhalb der so eintönig wirkenden favelas und eröffnen den Lesenden ihre jeweilige Sicht. Brutale Killer, kleine Ganoven, eifrige Kirchgänger, sich selbst überlassene Ehefrauen und korrupte Polizisten: Sie alle sind gefangen in dem dichten Gewebe aus engen Maschen und verworrenen Knoten, die Schicksale dicht geknüpft, die Fäden grob geführt.
Im Gegensatz zu Ferrézs rauer Textur scheint die Welt der neun Kurzgeschichten aus "Allerseelen" von Marcelo Ferroni (erschienen 2004) gleich einem glatten Stoff. Von der Kritik als "Rückkehr der Mittelschicht in die brasilianische Literatur" gefeiert, beschreiben Ferronis sorgsam gezimmerte Miniaturen São Paulos bürgerliche Welt der kleinen Angestellten, Bankdirektoren, Großfamilien, Leibwächter und Journalisten. Aber entgegen dem Anschein ist das feine Gewebe dieser bürgerlichen Welt von Rissen und Bruchstellen durchsetzt, in deren Schlingen sich einige der Protagonisten verfangen und durch deren lose Maschen sie in Abgründe stürzen: Biedere Bankdirektoren führen Doppelleben, die Wärme der Großfamilie wird zu erdrückender Enge, engelhafte Prinzessinnen dürstet es nach diabolischen Exzessen, Opfer werden zu Tätern.
Während die Charaktere aus "Allerseelen" sichtbar unwohl in den Falten einer zu stark gebügelten Normalität leben, ist das verspielte Gewebe von Ana Ferreiras "Liebhaberin", einem erotischen Abenteuer in 24 Kapiteln, erschienen 2002, alles andere als geradlinig geknüpft. Ferreiras Protagonistin erforscht eifrig die schlüpfrige Seide und die variierbaren Muster der Sinnlichkeit, indem sie das komplizierte Gewirr sexueller Abenteuer auskostet. Ob als Lolita oder Voyeurin, Liebhaberin oder Geliebte, Akteurin oder Objekt, die Erzählerin des Romans lotet alle sich anbietenden erotischen Möglichkeiten mit der Leichtigkeit und reizenden Eleganz feinster Spitzen aus.
Paulo Rodrigues schließlich zerrt an den Fäden und Fransen des Stadt-Gewebes in seiner 2001 veröffentlichten Novelle "Entlang der Schienen", einer poetischen Erzählung über die Außenbezirke der Stadt. Dort, wo sich São Paulos dichte Bebauung immer mehr ausfranst, entlang der Ausfallstraßen und Bahnlinien, machen sich zwei Brüder auf die Suche nach einem Vater, den sie nie gekannt haben. In dem lyrischen Text wird der Stadtrand zu einem mythischen Ort des Überganges zwischen Stadt und Nicht-Stadt, zwischen Jugend und Erwachsensein, Freundschaft und Distanz. Die Realität der Stadt wird immer blasser, die Maschen des Gewebes weiten und die Nähte, die die bunten Flicken zusammenhalten, lockern sich – die Patchworkdecke São Paulos löst sich auf.
- Ferréz, Manual prático do ódio, Rio de Janeiro: Objetiva, 2003
- Marcelo Ferroni, Dia dos mortos, São Paulo: Globo, 2004
- Ana Ferreira, Amadora, São Paulo: Geração Editorial, 2002
- Paulo Rodrigues, Á margem da linha, São Paulo: Cosac & Naify, 2001