Editorial
Löschen ist ein selektiver Prozess. Er gehört zu unserem täglichen Leben. Kleine und große Löschvorgänge führen zu Spannungen, (Gefühls-)Bewegungen, zu Frustration oder Zufriedenheit, zu Verzweiflung oder Glück. Jeder Löschvorgang ist ein radikaler Akt. Etwas verschwindet für immer und hinterlässt dabei Spuren oder einfach nicht. Ist das richtig oder falsch? Notwendig oder nicht? Dem Löschverlauf nachspürend gelangen wir an den geheimen Kern jeder kreativen Aktivität. Durch Löschen bringt man eine Transformation zustande. Das kann ein Schreibprozess sein, wie ihn Nava Semel beschreibt, oder eine Tatsache, die zu einer unerschöpflichen Inspirationsquelle wird, wie im Leben von Kim Young-Ha.
Betrachtet man die Geschichte der Menschheit, denkt man sogleich an die Bedeutung von „Löschen“ in einem sehr dramatischen Sinne – man denkt an Zerstörung und Genozid. Auslöschung, Aufhebung, Abschaffung waren das Ergebnis diverser fundamentalistischer Handlungen seitens terroristischer Gruppierungen und sogar bürgerlicher Zivilgesellschaften – wir betrachten ein Beispiel letzteren Phänomens in Bezug auf die gegenwärtige Lage in Indonesien.
Auf der anderen Seite gibt es auch politische Löschvorgänge mit einer eindeutig positiven Bedeutung. Es scheint paradox, aber unter bestimmten Bedingungen ist das Ausradieren der beste Weg, um Verbrechen zunächst anzuerkennen und dann zu erinnern – wie es im Rahmen des Versöhnungsprozesses in Südafrika geschehen ist. Die vorliegende Analyse des nationalen Versöhnungsprozesses in Marokko zeigt einen weiteren Versuch eines solchen Vorgangs, wobei die Schwächen der konkreten Implementierung offengelegt werden.
Es ist wohl wahr, dass das Verhältnis zwischen Löschen und Erinnern faszinierend ist. Die heftige Diskussion über die Wahrung kulturellen Erbes beispielsweise stellt sich in der komplexen Problematik digitaler Bibliotheken dar. Was Bibliotheken aufbewahren oder nicht, ist nicht länger eine zwanglose Entscheidung sondern entwickelt sich mehr und mehr zu einer dringenden Frage, die auf internationaler Ebene gestellt und gelöst werden muss. Auf der anderen Seite ist Kunst für viele Gegenwartskünstler nur mehr ein Auflösungsprozess. Sie erschaffen sich-selbst-zerstörende Kunstinstallationen. Der Prozess des Verschwindens ist ein großartiges Geschenk an Gedächtnis und menschliche Erfahrung. Kunst verkörpert in ihrer Form Spannung und Unsicherheit, reflektiert damit die instabile Dynamik unserer Existenz.
Also, ich würde sagen: make your choice and delete well!